Mal einfach nur da sein – das wünschen sich heute viele in der Pastoral. Ohne theologisches Drehbuch, ohne missionarische Hintergedanken und ohne pastorale Verwertungsabsicht. Einfach nur da sein, sonst nichts. Seelsorge „sine glossa“ – ohne Kleingedrucktes, Randbemerkungen und Fußnoten. Für die Leute und mit ihnen. Dass das keine Utopie sein muss, haben wir auf Konversionsflächen gelernt, auf denen sich Kirche gerade neu erfindet – und zwar ganz einfach, weil sie es muss. Weil es nicht mehr genug Ressourcen gibt, um in jedem neuen Stadtteil eine neue Kirche mit Pfarrzentrum und Kindergarten zu bauen. Ein spannendes Experiment: Was bleibt eigentlich von der Kirche übrig, wenn man sich nicht mehr auf Jahrhunderte lang eingespurte pastorale Routinen wie das Kirchenjahr oder die Sakramentenkatechese verlassen (und dahinter verschanzen) kann: Alle Jahre wieder… ?

Wende zum Weniger

Präsenzpastoral heißt: Wende zum Weniger als Umkehr zum Wesentlichen. Oder anders gesagt: Konversionsflächen als Chance kirchlicher Selbstbekehrung. Als Chance, eine Haltung der unaufdringlichen Antreffbarkeit kennenzulernen und einzuüben. Die Stuttgarter Caritastheologin Dr. Dorothee Steiof hat in einem durch das Bonifatiuswerk finanzierten Pilotprojekt den Beweis angetreten, dass das tatsächlich gelingen kann – inspiriert durch den Geist der Straßenexerzitien und Beispiele aus den Niederlanden. Hier berichtet sie in einem Essay von ihren Erfahrungen, hier in einem Podcast und hier in einem Film.

Jesuanischer Ursprung

De praesentia ecclesiae in mundo hodierno – diesen Titel hätte zu einem früheren Textstadium die Pastoralkonstitution des Zweiten Vatikanischen Konzils tragen sollen (ein typisch französischer Vorschlag): Über die Präsenz der Kirche in der Welt von heute. Er hätte ziemlich genau erfasst, was Gaudium et spes eigentlich unter Pastoral versteht – wenn das Lateinische den weiten semantischen, v. a. auch spirituellen Hof des französischen Begriffs présence denn erfasst und abgebildet hätte. Ad gentes benennt den jesuanischen Ursprung einer entsprechend weltpräsenten Gesamtpastoral:  „Um allen Menschen das Geheimnis des Heils […] anbieten zu können, muss sich die Kirche allen menschlichen Gruppen mit dem gleichen Antrieb einpflanzen, wie sich Christus […] der […] Welt jener Menschen verpflichtet hat, unter denen er lebte. […] Die Präsenz der Christ:innen in den menschlichen Gemeinschaften muss von jener Liebe beseelt sein, mit der Gott uns geliebt hat […]. Die christliche Liebe […] erwartet weder Gewinn noch Dankbarkeit […]. Wie also Christus durch die Städte und Dörfer zog und zum Zeichen der anbrechenden Gottesherrschaft jederlei Krankheit und Gebrechen heilte, so verbündet sich auch die Kirche […] mit den Menschen jeden Standes, besonders aber mit den Armen und Leidenden […]. Sie nimmt an ihren Freuden und Schmerzen teil, sie weiß um die Erwartungen und die Rätsel des Lebens, sie leidet mit in den Ängsten des Todes.“ (AG 10–12).

Zeugnis des Lebens

Pastoral der christlichen Präsenz in einer multireligiösen und multisäkularen Welt, die von zahlreichen Differenzen durchzogen ist – dafür steht in der Frankophonie der vor kurzem heiliggesprochene Charles de Foucauld ebenso wie auch die wohl bald seliggesprochene Madeleine Delbrêl (über die Dorothee Steif promoviert hat). Gerade sie ist ein Vorbild zeugnishafter christlicher Weltpräsenz im Geiste des Zweiten Vatikanums. Papst Paul VI. in seinem prophetischen Lehrschreiben Evangelii nuntiandi: „Die Verkündigung muss vor allem durch ein Zeugnis erfolgen. Das geschieht z. B., wenn ein einzelner Christ oder eine Gruppe von Christ:innen inmitten der menschlichen Gemeinschaft, in der sie leben, […] ihre Solidarität mit den Anstrengungen aller für alles zum Ausdruck bringen, was edel und gut ist. Ferner auch dadurch, dass sie auf ganz einfache und spontane Weise […] ihre Hoffnung in etwas bekunden, das man nicht sieht und von dem man nicht einmal zu träumen wagt. Durch ein solches Zeugnis ohne Worte wecken diese Christen in den Herzen derer, die ihr Leben sehen, unwiderstehliche Fragen: Warum sind jene so? Warum leben sie auf diese Weise? Was – oder wer – beseelt sie? Warum sind sie mit uns?“ (Papst Paul VI.: Evangelii nuntiandi, Nr. 21).

Ab in die Wüste …

Es gibt dazu zahlreiche Beispiele gelebter Praxis: in den Niederlanden genauso wie in Nordafrika. Claude Rault, der ehemalige Bischof von Laghouat, schreibt in seinem beeindruckenden Buch Die Wüste ist meine Kathedrale über sein persönliches Zeugnis der schlichten Präsenz unter den algerischen Muslimen: „Wir werden […] unserer Berufung treu bleiben, die uns zum Mitmenschen hinführt, um mit ihm gemeinsam in einer Liebe, die keine Grenzen setzen will und niemanden zu vereinnahmen sucht, ein menschliches Abenteuer zu leben. […] Unter dem Druck der Geschichte wurde unsere Mission […] diskreter und bescheidener. […] Unsere Häuser wurden offener und gastfreundlicher und ähneln oft Karawansereien, von allen Winden durchweht. […] Jedes Mal, wenn wir den römischen Kongregationen unsere Jahresstatistik zurücksenden sollen, komme ich leicht in Verlegenheit, weil ich gar keine Zahlen […] einzutragen habe. Nein, wir haben kein Priesterseminar und auch kein Internat, weder Schulen noch Krankenhäuser… Ja, was haben wir denn überhaupt? Außerordentlich viel haben wir: Eine Präsenz mit leeren Händen, ganz ohne Statistiken und Register […]! Leben kann man nicht in Zahlen ausdrücken […]. Wesentlich ist nicht die Zahl, sondern das Zeichen.“

Absichtsloses Dasein

Hierzulande gibt es noch wenig Erfahrung mit einer solchen Pastoral des absichtslosen Daseins unter den Leuten des eigenen Kontextes – hier ein erstes Beispiel aus dem Erzbistum Bamberg. Rolf Zerfaß hatte dazu bereits 1999 in seiner Abschiedsvorlesung alles theologisch Wichtige gesagt: „Wir stehen im Übergang von einer Kirche, die sich selbst behauptet […] hin zu einer Kirche, die teilnimmt an dem, was die Menschen bewegt und umgekehrt ihnen Anteil an dem gibt, was sie als ihr Erbe hütet. […] Sie akzeptiert die ihr […] zugemutete Minoritätsrolle. Aber gerade so – im Horchen auf die Tiefe der Stimmen, in und unterhalb der Konfessionen, Religionen und Kulturen – entdeckt sie neu ihre Identität. […] So wird sie fähig, von einer Pastoral der Eroberung Abschied zu nehmen zugunsten einer Pastoral der Präsenz unter den anderen […]. Statt über die schlechten Zeiten zu klagen […], begreift sie die gegenwärtige Situation als eine Einladung des Geistes Gottes, eine neue Gestalt des Kircheseins zu entwickeln, eine neue pastorale Kultur.“

Christian Bauer

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